Es ist Abend, der 3. März. Jeden Mittwoch triffst du dich mit deiner Freundin zum Abendessen bei ihr zu Hause. Ihr redet über die Arbeit und über die schönen alten Zeiten, als ihr noch Kinder wart. Stunden vergehen, du wohnst nicht weit weg, hast jedoch nun den letzten Bus nach Hause verpasst. Deine Freundin besteht darauf, dass du bei ihr bleiben sollst, es ist schon spät, doch du sagst, du müsstest noch etwas für die Arbeit erledigen. Du umarmst deine Freundin, ziehst deine Maske an, und machst dich auf den Weg.
Deine Freundin schaut aus dem Fenster und sagt: «Schreib mir doch, wenn du zuhause bist.». Du winkst ihr zu, und läufst weiter. Deine Wohnung liegt zwar in derselben Ortschaft wie die deiner Freundin, doch du musst noch an einem Park entlanglaufen. Der Park zählt zu den schönsten Plätzen deiner Stadt, morgens und nachmittags ist er gefüllt mit spielenden und kreischenden Kindern und Händchen haltenden Pärchen. Im Sommer liebst du es, in diesem Park zu picknicken. Aber es ist Abend, und abends läufst du hier nie allein herum. Du überlegst dir noch kurz, umzukehren, doch denkst dir, ach nein, ich bin doch nur viel zu misstrauisch, was soll schon geschehen.
Die Hände in deiner Jacke gehst du den Spazierweg, der durch die Mitte des Parks führt. Weit und breit keine Geräusche, keine Menschen, kein Gezwitscher und nirgends Licht. Deine Schritte werden schneller, nur noch 10 Minuten, dann bist du schon in deinem warmen Bett. Auf einmal merkst du einen Mann auf einer Bank sitzen. Er schaut dich aus der Ferne an. Er sieht älter als du aus, wirkt verwirrt, doch lässt dich nicht aus seinen Augen. Du musst an ihm vorbeilaufen, um den Ausgang aus dem Park zu erreichen. Aber du hast Angst. Du hast warm, nein, du schwitzts sogar, klammerst deine Hand an deine Schlüssel als eine mögliche Waffe, falls er dich angreifen sollte. Tausende Gedanken gehen durch deinen Kopf. Wird er dich angreifen? Übertreibst du es? Wieso hast du so Angst? Er sitzt doch nur, was soll er schon tun? Sollst du wegrennen? Kreischen? Deine Freundin anrufen?
Du läufst weiter, gekrampft, mit möglichst schnellen Schritten, aber auch nicht rennend, willst ja schliesslich auch nicht die Aufmerksamkeit auf dich ziehen. Bald hast du die Sitzbank erreicht, du zählst im Inneren einen Countdown, dessen Ende du nicht mal weisst. 5, der Mann schaut dich an. 4, du klammerst dich noch fester an deine Schlüssel. 3, du versuchst dich, an die Notrufnummer zu erinnern. 2, du schaust den Mann kurz an. 1, du steht genau vor dem Mann. 0. Du hast die Sitzbank und den Mann überschritten. Nicht einmal blickst du zurück, läufst nur geradeaus und rennst, nachdem du den Park verlassen hast, die wenigen Meter zu deinem Wohnblock in einem Sprint, denn du noch nie so schnell zurückgelegt hast. Erleichterung steigt in dir, du warst doch nur bisschen paranoid. Du schliesst die Türe, kontrollierst es noch dreimal, nimmst dein Handy hervor, und schreibst deiner Freundin: «Bin Zuhause, gute Nacht!😘».
Kurz bevor du schlafen gehst, schaust du noch auf dein Handy, und eine Nachricht aus der News-App leuchtet auf. Die Schlagzeile lautet: «Die Britin Sarah Everard (33) wurde auf ihrem Heimweg ermordet.»
Deine kleine Nachricht an deine Freundin besteht aus vier kleinen Wörtern. So viele Frauen würden alles geben, um diese vier Wörter von ihren Freundinnen zu erhalten, so viele hätten gerne die Chance gehabt, diese kleine Nachricht selbst zu verschicken.
Die grausame Ermordung von Sarah Everard
Am 3. März 2021 wurde eine junge Frau namens Sarah Everard in Südlondon ermordet. Ihre Leiche wurde in einem Wald im südostenglischen Bezirk Kent gefunden, in der Nähe eines Parks. Sarah Everard war an diesem Mittwochabend bei einer Freundin und war, nachdem sie sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte, spurlos verschwunden. Am 9. März wurde der Verdächtige ihrer Ermordung festgenommen. Der Verdächtigte heisst Wayne Couzens, ist 48 Jahre alt, und ist ein Polizist.

Eine grausame Ermordung. Leider eine grausame Wiederholung der Geschichte. Säureattentate, Femizide, Ehrenmorde, sexuelle Gewalt, Zwangsheiraten, häusliche Gewalt. So viele anderen jungen Frauen wie Sarah wurde es verboten, nach Hause zu kehren. So viele Zahlen, Fakten und Geschichten zeigen auf, wie sehr die weibliche Bevölkerung weltweit zum Opfer von massiver Gewalt und massiver Traumata wird. Und so wenig wird dagegen gemacht. Seit dem 14.03.2021 gibt es starke Reaktionen und Demonstrationen in Grossbritannien, um auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Frauen sind verzweifelt, wir sind wütend, denn viel zu viele kennen die Situation, die in der Erzählung oben geschildert wurde. Genau deswegen startete die Influencerin Lucy Mountain den Hashtag «Text me when you get home.». Über zwei Millionen Nutzer und Nutzerinnen markierten einen schlichten aber zutiefst berührenden Beitrag der Influencerin mit «Gefällt mir». Sie postete eine Whatsappnachricht mit den Wörtern: «Text me when you get home.», was übersetzt «Schreib mir, wenn du Zuhause bist.» bedeutet. In der Bildunterschrift erzählt sie, dass sie nicht aufhören konnte, an die verstorbene Sarah Everard zu denke.
«Ich habe auch eine tiefe Verbindung zwischen mir und anderen Frauen diese Woche gefühlt. Ich hatte viele Gespräche darüber, wie gewissenhaft wir unser ganzes Leben lang über unsere Sicherheit nachdenken. Diese tiefe Verbindung ist: Angst!».
Lucy Mountain
Den originalen Post auf Englisch findest du hier:
Hunderte von Frauen versammelten sich für eine Demonstration in London. Die Reaktion der Polizei auf die Mahnwache für Sarah E. löste eine erneute Diskussion aus. Auf Videos von dem Polizeieinsatz am Samstagabend war zu sehen, wie Polizisten mehrere Frauen gewaltsam abführten und sogar mit Gewalt reagierten. Frauen wurden von Polizisten auf den Boden gedruckt, weil sie für eine Frau demonstrierten, die von einem Polizisten auf ihrem Heimweg ermordet wurde.
Auch die Politik reagierte entsetzt auf die polizeiliche Reaktion, worauf Untersuchungen begonnen wurden.
Die Geschichte wiederholt sich.
Sarah Everard war eine junge Frau mit Träumen, Plänen und Hoffnungen. Sarahs Ermordung ist nicht die Erste. Die Angst, allein als Frau nach Hause zu laufen, ist nichts Neues. Und die Wut, die wir alle nun erspüren, ist leider auch nicht ein Sonderfall.
Einige traurige Fakten zu Gewalt an Frauen, die dich entsetzen werden (Quelle: Bundesamt für Statistik):
- 1 von 26 Frauen wird im Verlauf ihres Lebens vergewaltigt.
- 1 von 7 wird Opfer von sexueller Gewalt.
- 35% der Frauen gaben an, dass ihnen vor dem 15. Lebensjahr körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt durch Erwachsene angetan wurde. 12% gaben sexuelle, 27% körperliche und 10% psychische Gewalt an.
- 30% aller Frauen weltweit haben physische oder sexualisierte Gewalt innerhalb einer Beziehung erlitten.
Meine Träume
Ich bin jung. Ich habe Träume und versuche nun alles zu geben, um selbst daran zu glauben, dass Sarahs Ermordung die letzte Tötung von Frauen und Mädchen sein könnte, der letzte Fall von Gewalt an Frauen, doch es klappt nicht, nicht mal ich kaufe es mir ab.
Aber eins hoffe ich sehr. Sarahs Fall und Lucys Instagram Post sollen uns eines lehren: Du bist nicht paranoid, wenn du abends Angst hast, allein nach Hause zu laufen, egal, ob das wenige Meter oder Kilometer sind. Wir reden uns ständig ein, besser gesagt lassen es uns einreden, wir wären schuld, die Opfer haben dies und das getan, zur falschen Zeit losgelaufen, falsch reagiert, nicht genug früh geflüchtet, das alles stimmt einfach nicht. Oder man glaubt jungen Frauen nicht, wenn sie von ihrer Erfahrung mit Gewalt erzählen, man(n) stempelt sich als paranoid ab, alles sei nur übertrieben.
Das alles stimmt nicht, hat noch nie gestimmt und wird niemals stimmen, und keine traurigere Geschichte könnte dies besser beweisen als die von Sarah.

Quellen:
Sarah Everard: Debatte über Sicherheit von Frauen losgetreten | STERN.de
Sarah Everard starb auf dem Heimweg – nun gerät britische Polizei in Bedrängnis – FOCUS Online
2 Antworten zu “Text me when you get home- Die Ermordung von Sarah Everard.”
„Text me, when you´re home“. Ich bin aufgewachsen mit abendlichen Gängen durch einen kleinen Wald, der zwischen unserer Straße und der Stadt lag. Ich kenne das Sich-umdrehen, die hand am Schlüssel, die eiliger werden Schritte und vieles mehr.
Gewalt gegen Frauen – ich finde gut, dass man in England spricht darüber. Ich finde, wir sollten das hier auch tun.
https://www.rottweil-ist-ueberall.de/magazin/topthema.php?conid=110&p=1
LikeGefällt 1 Person
Danke für deinen Kommentar! Habe gerade deinen Artikel gelesen, über Gewalt gegen Frauen zu sprechen und verschiedene Situationen aus verschiedensten Ländern zu thematisieren, wird uns hoffentlich helfen, Schicksalsschläge wie die von Sarah zu verhindern. Sehr traurig, dass auch du Erfahrung mit dieser Angst gemacht hast, wünsche dir alles Gute! Bleib gesund!
LikeLike