Das dritte Buch über italienische Migranten in der Schweiz, das fünfte Buch insgesamt des in Stans Nidwalden geborenen Autors. Vincenzo Todisco erstes deutschsprachiges Buch «Das Eidechsenkind» wurde 2018 für den Schweizer Buchpreis nominiert und gibt einen Einblick in eine Welt, die in den Schränken der immigrierten Gastarbeiter versteckt blieb.
Die in Schränken versteckten Geschichten
Eine Welt, die Todisco nicht selbst erlebt hat, aber viel zu gut kennt. Im Jahr 1964 wird der Schweizer Autor als Sohn italienischer Einwanderer geboren, zur selben Zeit, als das Saisonnierstatut noch in Kraft war. Von 1934 bis 2002 ermöglichte diese Aufenthaltsbewilligung Einreisen von ausländischen Arbeitskräften für einige Monate und verbot Familiennachzug. Die Geschichte des Eidechsenkindes spielte sich in vielen italienischen Einwandererfamilien ab, Familien, die auch Todiscos Mutter kannte. Vincenzo Todisco wächst in einer Zeit in der Schweiz auf, wo 10`000 bis 15`000 Kinder versteckt in der Schweiz lebten. Tausende von Kindern, die das gleiche Schicksal mit dem Eidechsenkind teilten. Er studierte Romanistik in Zürich und wurde schon 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet.

Die Familie des Eidechsenkindes kommt anfangs der 1960er Jahre aus Ripa in die Schweiz. Sie wollen arbeiten, Geld verdienen, und in kürzester Zeit zurück in ihre Heimat kehren, um ein Haus zu bauen und in besseren Umständen zu leben. Ihren Sohn lassen sie zuerst bei der Nonna Assunta zurück, einer typisch italienischen Grossmutter, die eine fürsorgliche und feste Beziehung zum Eidechsenkind aufbaut und zu seiner einzigen Bezugsperson wird. Mit fünf Jahren muss das Kind seine Grossmutter verlassen, reist illegal in die Schweiz ein und bleibt in der Wohnung im Gastland versteckt. Er darf weder die Schule besuchen noch draussen mit seinen Altersgenossen spielen, und verliert mit der Zeit immer mehr die Fähigkeit, ein Kind zu sein. «Im Gastland ist das Kind ein Kind, das nicht sein darf. Die Eltern trichtern ihm ein, es dürfe nur flüstern, mit niemandem sprechen, es müsse immer auf der Hut sein. Wenn man es entdeckt, verliert der Vater seine Arbeit, und sie müssen alle drei zurück nach Ripa.» Wie eine Eidechse versteckt es sich vor der Polizei oder vor dem Chef des Vaters, damit die Eltern nicht bestraft werden. In Schränken, im Badezimmer, auf dem Dachgeschoss: das Eidechsenkind wird zum Meister des Versteckens.
Seine Isolation, die ihm zuerst aufgezwungen wird, wird später zu seiner freiwilligen Entscheidung. Zu seinen Eltern hat er keine emotionale Beziehung mehr, und der Junge baut sich seine verborgene eigene Welt der Sehnsucht auf. Die Erinnerungen an seine Nonna, der Wunsch, das Meer zu sehen, zu reisen, seine imaginativen Ausflüge dank Comics und Büchern und symbolische «Wölfe», die seine Feinde sind, werden zu Bestandteilen seines Lebens, die nur ein Eidechsenkind verstehen kann.
Vincenzo Todisco schafft es, in einer einfachen und dichten Sprache die Sicht eines Kindes zu schildern. Das Eidechsenkind ist trotz allem immer noch ein Kind, und auch Elemente wie das Erwachsenwerden werden aus einer äusserst interessanten Perspektive wiedergegeben. Das Kind, später auch Junge genannt, bleibt bis zur letzten Seite des Buches namenlos. Todisco interpretiert nicht und diagnostiziert auch keine Krankheiten, sondern behandelt die Geschichte des namenlosen Kindes mit Vorsicht und Sorgfalt, und überlässt das Interpretieren dem Leser oder der Leserin selbst. Er gibt als Erzähler aus den Augen eines traumatisierten Menschen die Hürden der Gastarbeiterfamilien wieder, und deckt ein verborgenes Geheimnis der Schweizer Geschichte auf, dessen Folgen immer noch zu spüren sind. Das Saisonnierstatut hat tausende Kinder dazu gezwungen, genau wie das Eidechsenkind namenlos zu bleiben. Viele wuchsen im Gastland auch getrennt von ihren Eltern auf, da diese ständig arbeiten mussten, und hatten somit nicht die Chance, mit ihren Eltern eine Familie zu sein. Das Gastland blieb ein Gastland und wurde nicht zu einer neuen Heimat und den Kindern entnahm man das Recht, ein Kind zu sein. Die Handlungen verlaufen chronologisch, geben jedoch nur kleine Einblicke in das Leben des Kindes. Die Geschichte ist mit Passagen über die Nachbarn im Gastland oder der Familie in Ripa beschmückt, welche eine dichte Geschichte mit verschiedensten Blickwinkeln ermöglichen. Die kindliche Sprache des Eidechsenkindes erscheint zunächst emotionslos, doch je besser man ihn kennenlernt, umso einfacher wird es, sich seine Sicht vorzustellen und seine Emotionen zu verstehen. Auch erschütternde Momente sind dabei, die die animalische Verwandlung des Eidechsenkindes verdeutlichen. Eine originelle Sprache mit originellen Beschreibungen und kurzen Sätzen, die in den Händen von Todisco zu einem poetischen Kunstwerk werden, verleihen dem Roman eine Lebendigkeit, die die Lesenden zum Nachdenken bringt. Eine unfassbare Geschichte, die nicht realer sein kann. Der Roman ist ein absoluter Muss für alle, die die Schweiz von ihrer dunkleren Seite kennenlernen wollen.
Vincenzo Todisco: Das Eidechsenkind. Roman. Rotpunktverlag, Zürich 2018. Ca 30 Fr. 216 Seiten.