Von der Kiewer Rus bis zum Holodomor
Als ich vor einigen Tagen anfing, diesen Artikel zu verfassen, lautete die Einleitung wie folgt:
Schlagzeile über Schlagzeile, jeden Tag neue Meldungen, Sanktionen und die grosse Frage, welche Menschen rund um die Welt beschäftigt: Wird es zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommen?
Es ist herzzerbrechend, dass die Frage dieser Einleitung nicht unbeantwortet blieb. Es ist erschütternd, zu wissen, dass nun diese Frage eine klare Antwort erhalten hat.
In diesem Artikel geht es in erster Linie jedoch nicht um den aktuellen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, sondern um die geschichtlichen Hintergründe der konfliktreichen Beziehung zwischen der Ukraine und Russland.
Obwohl die heutige Ukraine erst seit 31 Jahren ein unabhängiger Staat ist, reicht die Geschichte des flächenmässig grössten europäischen Landes bis zur Gründung des mittelalterlichen Grossreichs «Kiewer Rus» zurück. Somit geht es auch beim russisch-ukrainischem Konflikt nicht nur um die geschichtlich jüngsten Ereignisse rund um Wladimir Putin, die NATO und EU. Die Geschichte der Konflikte reicht tausende von Jahre zurück und ist mit verschiedensten Verflechtungen der beiden Staaten verbunden.

Die Kiewer Rus
Die Kiewer Rus war ein Grossreich im heutigen Gebiet der Ukraine, dessen Höhepunkt und Blütezeit um das 10. Jahrhundert war. Der Herrscher Oleg von Kiew erreichte mit seinem Feldzug gegen Konstantinopel einen einseitigen Friedensvertrag mit der Byzanz und zwang Handelsprivilegien für seinen Staat auf. Zu diesem Zeitpunkt kam es auch zur Christianisierung der Kiewer Rus, da der enge wirtschaftliche Kontakt mit dem byzantinischem Reich auch die christliche Missionierung förderte. Der Grossfürst Wladimir I. Swjatoslawitsch nahm im Jahr 988 den orthodoxen Christentum als Staatsreligion der Kiewer Rus an, womit auch die russisch-orthodoxe Kirche geboren wurde.

Die Kiewer Rus war jedoch kein einheitliches Reich und bestand aus vielen kleinen Teilfürstentümern. Da im Gebiet der heutigen Süd- Ostukraine eine Steppenlandschaft zu finden war und keine natürlichen Barrieren das Reich schützen, kam es an 1223 zur mongolischen Invasion der russischen Fürstentümer. Der fragmentierte Aufbau des Grossreichs erleichterte die Invasion und somit auch den Zerfall der Kiewer Rus.
Aus einem der Teilfürstentümer der Kiewer Rus, dem Fürstentum Wladimir-Susdal, entstand später um 1340 das Grossfürstentum Moskau. Teile der heutigen Ukraine gehörten zu diesem Zeitpunkt dem Grossfürstentum Litauen, und ab 1569 der Republik Polen-Litauen.
Der Name der Ukraine ist auf die Konflikte zurückzuführen, die sich um diese Zeitspanne zwischen den russischen und polnischen Reichen ereigneten. Der Landesname Ukraine beruht sich auf das altostslawische Wort «ukraina» und bedeutet «Grenzgebiet». Die Region der heutigen Ukraine wurde zum Rivalitätsgebiet der Republik Polen-Litauen und des Grossfürstentums Moskau.
Aus diesen geschichtlichen Verflechtungen der heutigen Staaten Ukraine und Russland kamen Konflikte hervor, die die Völker beider Staaten bis heute beschäftigten. Beide Völker beanspruchen die Kiewer Rus für ihre eigenen Staaten. Historiker beider Staaten streiten deswegen bis heute, wer die wahren Erben der Kiewer Rus sind. In diesem Konflikt geht es hauptsächlich um die Frage, ob das ukrainische Volk ein eigenständiges Volk ist, oder nur Teil eines grossen russischen Volkes.
Wladimir Putin stützt sich also heute, wenn er seine Bestrebungen für ein grosses, starkes und zentralisiertes Russland spricht, genau auf diese Fragestellung und diesen Konflikt. Mit der Annahme, dass das ukrainische Volk kein eigenes Volk ist, können Pläne für ein russisches Grossstaat begründet werden.
Die erste ukrainische Nationalbewegung
Ein Grossteil der ukrainischen Regionen der Kiewer Rus waren nach dem Untergang der Kiewer Rus Teil der Republik Litauen-Polen. Im Jahr 1648 wurde ein ukrainischer und unabhängiger Staat von ukrainischen Kosaken gegründet, das Hetmanat. Nur sechs Jahre Später im Jahr 1654 schliesst sich das Hetmanat, und somit weitgehende Teile der heutigen Ukraine, als autonome Region dem russischen Zarenreich an. Mit der zunehmenden Macht des russischen Kaiserreiches werden immer weniger Freiheiten dem ukrainischem Volk und dem Hetmanat gewährt. Als Gegenreaktion auf die Unterdrückung des ukrainischen Volkes entsteht im 19. Jahrhundert die erste ukrainische Nationalbewegung, die sich gegen die zaristische Regierung wehrte. Die ukrainische Identität wurde stark unterdrückt, um die Entfaltung der Nationalbewegung zu hindern. Publikationen in der ukrainischen Sprache wurden verboten und das Lehren der Sprache an Schulen verboten. Auch wurde die Bezeichnung «Ukraine» verboten. Stattdessen wurde der Begriff «Kleinrussland» verwendet. Das ukrainische Volk als «Kleinrussen» zu bezeichnen hatte das Ziel, die ukrainische Identität vollständig zu verleugnen.

Die erste ukrainische Volksrepublik
Der erste ukrainische Nationalstaat wurde nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 gegründet. Der unabhängige Nationalstaat existierte nur drei Jahre, bis die Rote Armee, das Heer und die Luftstreitkräfte Sowjetrusslands, die Hauptstadt Kiew übernahm. Die drei Jahre Unabhängigkeit zeichneten sich durch Turbulenz aus, da die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetregierung nicht anerkannt wurde und somit ein Bürgerkrieg ausbrach. Im März 1918 besetzen die deutschen und österreich-ungarischen Armeen den Regierungshauptsitz Kiew und installierten eine Regierung unter Pawlo Skoropadskyj (1873–1945), welcher ein konservatives Regime verfolgte und die Getreideversorgung der Staaten Deutschland und Österreich-Ungarn zur Hauptaufgabe der Ukraine machte. Zeitgleich entstand im Süden und Osten der Ukraine eine Militärdiktatur unter dem russischen Generalleutnant Anton Denikin.

Auch wenn die Unabhängigkeit für das ukrainische Volk mit verschiedensten Konflikten und militärischen Auseinandersetzungen verbunden war, spielte der erste Nationalstaat der Ukraine eine wichtige Rolle für das nationale ukrainische Bewusstsein. Symbole, die Währung, die gelb-blaue und sogar die Nationalhymne: all diese Kennzeichen der nationalen ukrainischen Identifikation entwickelten sich aus der ersten ukrainischen Volkrepublik, der nach seiner Lebensdauer von drei Jahren als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken wurde. (von 1922 bis zu deren Zerfall Ende 1991)

Der Holodomor
Eine tiefe Verletzung, die seit Jahrzehnten einen grossen Einfluss auf die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine hat, ist der Hungersnot in der Ukraine in den 1930er Jahren. Sie war ein großer Teil der größeren sowjetischen Hungersnot von 1932-1933. Auch wenn andere Gebiete der Sowjetunion ebenfalls von der Hungersnot betroffen waren, machte die Zahl der ukrainischen Hungertoten mit schätzungsweise vier bis sieben Millionen Opfern mehr als die Hälfte aller Todesopfer aus. Grund für die Hungersnot war die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Weitere politische Massnahmen der Sowjet-Regierung führten zur zielgerichteten Verschlechterung der Lage in der Ukraine. Beispielsweise wurden ukrainische Grenzen geschlossen, die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung eingeschränkt und somit Hungernden die Flucht in andere Staaten der Sowjetunion verhindert. Durch Zwangsabgaben von Getreide und Beraubungen blieben Bauern keine Vorräte übrig. Heute wird der Holodomor von der Ukraine und weiteren 15 Staaten offiziell als Völkermord anerkannt. Im ganzen Land sind verschiedene Denkmäler und Museen errichtet, darunter auch das prominente Museum für den Holodomor-Genozid in Kiew.

Der zweite Weltkrieg, die Unabhängigkeit der Ukraine im Jahre 1991 und der Euromaidan: Den weiteren geschichtlichen Verlauf der Beziehung zwischen der Ukraine und Russland findest du bald auf offengesagt.com im Artikel „Die Geschichte des russisch-ukrainischen Konflikts- Teil 2“.
Quellen
https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/holodomor-ukraine-100.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Kiewer_Rus