Und irgendwann kommen sie. Irgendwann spürst du sie, wie sie sich schleichend zu dir bewegen, wie sie dich sanft und kräftig zugleich in ihre Arme der Nostalgie nehmen. Eine Umarmung, die nicht süsser, nicht schmerzvoller sein kann. Die Abschiede.
In meiner Kindheit hatte ich grosse Angst vor Abschieden. Die neue Frisur meiner Mutter, neue Vorhänge, oder auch nur neue Löffel: Ich mochte nichts Neues, ich wollte mich nicht vom Vertrauten und Bekannten verabschieden. Als wir unseren alten Fernseher entsorgten, einer dieser viereckigen riesigen kastenförmigen Röhrenfernseher, organisierte ich eine Abschiedszeremonie. Ich fotografierte unseren Phillips Fernseher mit meiner pinken Digitalkamera, liess alle meine Plüschtiere sich von ihm verabschieden, brachte Gänseblümchen vom Spielplatz nach Hause, schrieb in meiner kindlichen Schrift in meiner kindlichen Sprache einen kindlichen Brief, las diesen dem Fernseher vor, und weinte. Tatsächlich kamen da zwei Tränen, vielleicht auch drei. Es war nicht ein schluchzendes Weinen, aber meinen alten grauen Freund abzugeben, den ersten Fernseher, den ich gekannt hatte, den Fernseher, der mir das Träumen und Lachen mit SpongeBob und iCarly beigebracht hatte, ihn zu entsorgen, zu vergessen, ihm mit einem unwiderruflichen Knopfdruck seine Fähigkeit aus Pixelchen und Farbtüpfchen Bilder, Geschichten, und Leben zu erschaffen zu entnehmen, das war ein Abschied, das Ende eines Kapitels, aber es war auch alles andere als ein leiser Abschied für mich.
Ein absurder, einfacher, und in keinem Fall leiser Abschied. Die Welt stand für einen kurzen Augenblick still und sah mir zu, wie ich dieses graue Gerät personifizierte, mit meinen Abschiedsritualen ihn zuerst ins Leben erweckte und dann in das Reich der Toten schickte. Und als wir dann den neuen Fernseher kauften, der mit seinem dünnen schwarzen Rahmen mir eine noch grössere Fläche zum Träumen und Erkunden ermöglichte, vergass ich meinen grauen alten Freund namens Phillips endgültig, denn die lauten Abschiede lassen sich schneller vergessen. Es sind die leisen Abschiede, die wir zuerst nur aus der Ferne hören, mit dem Zischen des Teekochers gleichsetzen, zu ignorieren versuchen, es sind diese sanften Umarmungen, die wir nicht schätzen, an die wir uns viel länger erinnern, es sind die leisen Abschiede, deren Wucht uns verzögert verwunden.
Das letzte Mal jemanden umarmen, ohne zu wissen, dass es die letzte Umarmung ist. Das letzte Mal eine Voci-Prüfung schreiben, ohne beim Schreiben des Wortes ACCÉLLÉRER dies zu realisieren, nur auf die «égüs» zu achten, die Gefühle in diesem Moment völlig auszublenden. Das letzte Mal für eine Geografie-Prüfung zu lernen, Exzentrizität von der Präzession zu unterscheiden versuchen, und dabei zu vergessen, die Geräusche im Klassenzimmer zu registrieren. Das letzte Mal in der Bistro Gemüsereis oder Country-Cuts zu essen, ohne zu wissen, dass es bis zu deinem Abschluss diese Gerichte nicht mehr geben wird. Das sind die leisen Abschiede, deren Schmerz ich am tiefsten fühle, deren süsse und schmerzvolle Wirkung ich in stillen Momenten am meisten spüre.
Man würde nun meinen, ich würde es doch übertreiben. Ist jedes Ende wirklich auch ein Abschied? Ist es die Matheprüfung, die ich vermisse, oder der zauberhafte Stress, den ich mit meinen Kolleginnen teile? Ist es das riesige Periodensystem im Chemiezimmer, von dem ich mich mit einem letzten Selfie verabschiede, oder ist es die Chemielehrerin, die ich für immer als Rätsellöserin, die mit Molekülen und Atomen die Erde zu entschlüsseln versucht, in Erinnerung behalten werde?
Vielleicht sind es immer beide Seiten, die ich vermisse. Alles, aus dem ich eine Lehre ziehe, und alle, die ich mit diesen Lehren verbinde.
Offen gesagt: Ich hasse leise Abschiede. Doch eins steht fest: Für mich gibt es keine leisen Abschiede. Dort, wo ich bin, ist es alles andere als leise. Und meine Abschiedszeremonien, meine letzten Briefe und letzten Worte, die füllen mit Lachen, Tränen und Trauer alle Löcher, welche die Abschiede hinterlassen. Statt zu bereuen, den Schmerz nicht ausgekostet zu haben, drehe ich den Ton der Abschiede so hoch, dass sie zu einer bittersüssen Erinnerung statt zur Reue werden.