Die kurdischen Gebiete innerhalb nordsyrischer und türkischer Grenzen zählen seit der Erdbebenkatastrophe am 06.02.2023 zu den am stärksten verwüsteten Regionen. Gezielte militärische Angriffe sowie Verzögerungen bei der Bereitstellung staatlicher Hilfe verschlimmern die Situation für Millionen von Kurd*innen.
Was ist an der syrisch-türkischen Grenze los?
Inmitten der humanitären Notlage aufgrund des Erbebens an der syrisch-türkischen Grenze wurde die Region um Tal Rifaat im Norden Syriens vom türkischen Militär bombardiert. Menschenrechtsaktivisten zufolge griff die Türkei das kurdische Gebiet in der Nacht zum Dienstag an. Laut dem Nahostexperten der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, handelt es sich bei dieser Region, welche nördlich der vom Erdbeben betroffenen Stadt Aleppo liegt, um ein Siedlungsgebiet wo sich kurdische Geflüchtete aus der Stadt Afrin befinden. Afrin ist seit 2018 von türkischen Streitkräften besetzt, weswegen bis zu 200’000 Menschen, mehrheitlich Kurden, flüchten mussten. Unter dem Namen «Operation Olivenzweig» startete die Regierung Erdoğans am 20. Januar 2018 eine Militäroffensive auf Afrin, die Teil der türkischen Besetzung Nordsyriens seit 2016 war.

Die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete im Norden Syriens sind somit von einem doppelten Leid betroffen. Luftschläge haben bereits vor dem Erdbeben wichtige zivile Infrastrukturen zerstört, worunter Schutzsuchende leiden. Da die nordöstlichen kurdischen Gebiete von der syrischen Zentralregierung abgeschnitten sind, stehen sie nicht unter Regimekontrolle und sind bei den Rettungsaktionen nach den Erdbeben auf sich allein gestellt. Hilfslieferungen oder Unterstützung der Vereinten Nationen werden somit stark eingeschränkt.
Bei den vom Assad-Regime beantragten UN-Hilfen besteht die Befürchtung, dass diese nur regimenahen Organisationen zur Verfügung gestellt werden. Aktivist*innen weisen deswegen darauf hin, dass es wichtig ist, vom Regime unabhängigen Organisationen im Nordosten und -westen zu unterstützen und sich an die kurdische Selbstverwaltung in diesen Gebieten zu wenden.
Was ist in den kurdischen Städten in der Türkei los?
In vielen der 10 von den Erdbeben betroffenen türkischen Provinzen, die mehrheitlich von Kurden bewohnt werden, besteht die Befürchtung, dass die Regierung Erdoğans Hilfslieferungen gezielt daran hindern könnte, kurdische Städte und Dörfer zu erreichen
Ungefähr neun Stunden nach dem ersten Erdbeben am 6. Februar 2023 gab es ein zweites Erdbeben der Magnitude 7.5, dessen Epizentrum sich in der kurdisch-alevitischen Stadtgemeinde Ekinözü innerhalb der Provinz Kahramanmaraş befand. Die Geschichte dieser Provinz verrät einiges über die Unsicherheit und Ängste der Bevölkerung.
Beim Pogrom von Maraş, auch Kahramanmaraş-Massaker genannt, wurden im Jahre 1978 zwischen dem 19. und 26. Dezember 111 Menschen ermordet. Die Vorfälle waren rassistisch motiviert und richteten sich gegen die alevitische und kurdische Bevölkerung in Maraş. 559 Häuser von Aleviten, die zuvor mit roten Kreuzen gekennzeichnet worden waren, wurden niedergebrannt. Verantwortlich für das Massaker waren die Rechtsextremisten der Gruppe «Graue Wölfe», welche sich aus Mitgliedern der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und der Partei der Großen Einheit (BBP) zusammensetzte.

Bild: https://www.tagesspiegel.de/internationales/erdbeben-in-der-turkei-und-syrien-wenn-sogar-die-helfer-hilfe-brauchen-9307322.html
Wieso die Regierung für die Verwüstungen verantwortlich ist
Neben der Stärke der beiden Erdbeben ist auch die geringe Robustheit der Gebäuden im Süden der Türkei und in benachteiligten kurdischen Regionen für die Verwüstungen verantwortlich. In der kosmopolitischen Stadt Hatay, die von Kurden, Christen griechischer Herkunft, arabischen Alawiten und Armeniern bewohnten wird, zeigen die Schäden am Flughafen und an zwei Krankenhäusern, dass die Regierung der Aufgabe, eine robuste zivile Infrastruktur bereitzustellen, nicht gerecht geworden ist.
Eine diskriminierende Grundhaltung der türkischen Regierung spiegelt sich auch in den Hilfsmassnahmen nach den Erdbeben wider. Die staatliche Ausländerberatungsstelle Yimer bot den Erdbebenopfern Übersetzungshilfe in sieben Sprachen an, darunter Paschtu, Türkisch, Arabisch, Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch. Übersetzungshilfe in die kurdische Sprache wird nicht angeboten, obwohl Kurdisch die am zweithäufigsten gesprochene Muttersprache in der Türkei ist.
Heute liegt Kurdistan unter Trümmern
Heute liegt Kurdistan unter Trümmern. Die Bruchstücke zerstörter Leben zerreißen ein bereits zersplittertes Volk erneut in Stücke. Teile eines Puzzles, die nie zueinander finden konnten, werden nun erneut zerstückelt. Ein neues Gewicht auf Böden, welche die Schwerelosigkeit der Freiheit nie kennenlernen durften.
Weiteres zum Thema:
https://www.tagesspiegel.de/politik/wie-die-turkei-siedlungspolitik-betreibt-5811163.html