Rund zehn Tage nach dem Erdbeben an der Grenze zwischen der Türkei, Syrien und Kurdistan wird bereits mehr über die skandalöse neue Staffel von Germanys Next Topmodel und Rihannas Super Bowl Performance berichtet als über die Opfer der verheerenden Erdbebenkatastrophe. Die Krankenhäuser in Aleppo haben währenddessen nicht mehr genug Platz, um neue Patient*innen aufzunehmen.
Die Situation in Aleppo nach dem Erdbeben
Die Opfer des Erdbebens in Nordsyrien haben bisher nur geringe oder überhaupt keine Hilfe erhalten. Das Al-Razi-Krankenhaus in Aleppo (Syrien) hat nun nicht nur mit der Versorgung der Verletzten zu kämpfen, sondern auch mit mit Unterbringungsproblem aufgrund der Zerstörung der Stadt. Der Leiter der Orthopädie Dr. Nizar Suleiman erklärt gegenüber der BBC, dass die Patient*innen selbst nach einer erfolgreichen Behandlung nicht aus dem Krankenhaus entlassen werden können, da es keine Unterkünfte gibt, wo sie hingehen können. Der Mangel an Medikamenten und medizinischen Geräten verschlimmert die Krise erheblich.
In den letzten zwölf Jahren lebten die Menschen in Aleppo aufgrund des Bürgerkriegs bereits mit der Angst, ihre Familienmitglieder oder ihr Eigentum schlagartig verlieren zu können. Das Erdbeben bringt jedoch ein ganz neues Ausmass an Leid mit sich, weshalb sich die humanitäre Lage in der Region weiter verschärft.

Öffnung der Grenzübergänge
Aufgrund starker Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg werden seit 2011 von der EU und der USA gegen Unternehmen und Personen, die Handel mit Syrien betreiben, Sanktionen verhängt. Der syrische Diktator Baschar al-Assad behauptet, dass die Sanktionen der Grund dafür seien, wieso Hilfsgüter die vom Erdbeben betroffenen Gebiete in Syrien nicht erreichen.
Während Zehntausende von Menschen nun obdachlos sind und in Moscheen, auf öffentlichen Plätzen oder in Kirchen übernachten müssen, nutzt Assad die aktuelle Krise zu seinem politischen Nutzen. Das Assad-Regime besteht darauf, dass die gesamte internationale Hilfe über Damaskus geleitet werden soll, um die Kontrolle zu behalten und Hilfe für Oppositionsgruppen zu verhindern. Bis vor wenigen Tagen war der Grenzübergang Bab al-Hawa die einzige Grenze, die für internationale Hilfslieferungen geöffnet war und über die Hilfe in von Rebellen kontrollierte Gebiete Syriens gelangen konnten. Alle weiteren Grenzübergänge waren geschlossen.
Nach Verhandlungen zwischen der UNO und Assad wurden zwei weitere Grenzübergänge geöffnet, womit nun auch über Bab al-Salameh und Al Ra’ee Hilfsgüter nach Syrien gebracht werden können. Nach Angaben der Vereinten Nationen erreichten am 14.02.2023 elf Lastwagen aus der Türkei den Grenzübergang Bab al-Salameh, welcher nördlich von Aleppo liegt.
Die Situation in Idlib
Idlib ist eines der von islamistischen Kräften kontrollierten Gebiete in Syrien. Auch die sogenannte Syrian Salvation Government, «syrische Heilsregierung», wurde Anfang November 2017 in Idlib gegründet, woraufhin ein wochenlanger Konflikt mit anderen Rebellengruppen folgten. Im Dezember 2019 verstärkte das syrische Regime unter Assad die Angriffe auf die Region. Zivile Infrastrukturen wie Schulen und Krankenhäuser waren besonders von den Luftangriffen und Bombardierungen betroffen. Idlib zählt somit zu den Hauptschauplätzen des syrischen Bürgerkriegs.
Im vom Krieg stark geschwächten Idlib lagen bereits vor dem Erdbeben zahlreiche Häuser in Trümmern. Die Katastrophe verschärft die humanitäre Lage für Idlibs Bevölkerung. Von den vier Millionen Einwohner*innen, darunter Flüchtlinge aus verschiedenen Regionen Syriens, lebte rund die Hälfte bereits vor dem Erdbeben in Zelten. Bis zum 14.02.2023, neun Tage nach dem Erdbeben, kam weder internationale Hilfe noch nationale Unterstützung über die Regierung in Idlib an. Erst nach der Öffnung des Grenzübergangs Bab al-Salameh erreichte der erste UN-Hilfskonvoi die Region, doch da Idlib bereits seit Tagen von der Aussenwelt abgeschnitten war, konnten Tausende von Menschen, die unter Trümmern auf Hilfe warteten, nicht mehr gerettet werden.
Die in der Region um Idlib besonders aktive militant-islamistische Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) blockiert seit beginn der humanitären Notlage die Hilfslieferungen. Am 13. Februar 2022 berichtete ausserdem die Tagesschau, dass die HTS rund 40 Prozent der von der Regierung in die Provinz Idlib geschickten Hilfsgüter in Beschlag genommen hat.

OMAR HAJ KADOUR / AFP, https://www.lemonde.fr/en/international/article/2023/02/13/in-syria-earthquake-damage-widens-fractures-from-war_6015563_4.html
Wir sind unser schlimmster Feind
Die Frage, warum internationale Hilfe die Türkei schneller erreicht als Syrien, beantwortete der Historiker Hans-Lukas Kieser in der SRF-Club-Sendung vom 14.02.2023 damit, dass die Türkei geopolitisch interessanter ist, weshalb Hilfsorganisationen und Staaten diplomatisch gesehen den Einsatz in der Türkei bevorzugen.
Bisher sind mindestens 5900 Menschen in Syrien aufgrund des Erdbebens gestorben. Allein in Syrien sind 10 Millionen Menschen vom Erdbeben betroffen. Viele dieser Menschen sind nun obdachlos, haben ihre Familienmitglieder verloren und warten auf Hilfe.
Die Tatsache, dass dieses furchtbare Leid für geopolitische Zwecke instrumentalisiert wird, zeigt einmal mehr, dass weder Erdbeben noch Tsunamis die grösste Gefahr für uns Menschen sind. Millionen von Menschen, die mit der richtigen Hilfe hätten gerettet werden können, wurden unter Betonmassen ihrem eigenen Schicksal überlassen. Auch wenn ich Hilfsorganisationen und Individuen, die ihr Leben für die Rettung anderer Leben riskieren bewundere, zeigt die Situation in Syrien nach der Erdbebenkatastrophe, dass wir stets unser eigener schlimmster Feind sind.
Weiteres zum Thema/Quellen:
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/erdbeben-tuerkei-syrien-zehntausende-tote-103.html
https://www.bbc.com/news/world-middle-east-64637917
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/erdbeben-syrien-109.html