In weniger als 12 Stunden wird die Welt entweder einen neuen Diktator oder einen neuen Hoffnungsträger dazu gewonnen haben. In weniger als 24 Stunden werden Millionen junge Menschen in der Türkei entweder den Schritt ins Ausland wagen und ihre Auswanderung planen, oder mit ihren Freunden und Freundinnen feiern gehen.
In weniger als 12 Stunden wird die Türkei einen neuen Präsidenten gewählt haben. Seit Wochen ist in den Medien von einer Schicksalswahl die Rede. Von Wahlbetrug bis zu einem möglichen Putschversuch verbreiten sich Schreckensszenarien rund um den Wahltag rasant. Es geht um alles oder nichts, denn Kleinasien wird fünf weitere Jahre mit dem autoritären Herrscher Recep Tayyip Erdoğan nicht mehr tragen können. Minderheiten wie die Kurden und Aleviten sind besonders stark von der Repression im Land betroffen.
Der kurdische Politiker Selahattin Demirtaş, welcher im Jahr 2019 für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, ist seit 2016 ein politischer Gefangener Erdoğans. Im November 2016 wurde er verhaftet, da ihm Terrorpropaganda vorgeworden wird. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Freilassung forderte, wird er unrechtsmässig weiterhin gefangen gehalten.

Die gegenüber Minderheiten diskriminierende Grundhaltung der türkischen Regierung wurde auch bei der Erdbebenkatastrophe am 6. Februar 2023 ersichtlich.
Inmitten der humanitären Notlage aufgrund des Erbebens an der syrisch-türkischen Grenze wurde die Region um Tal Rifaat im Norden Syriens vom türkischen Militär bombardiert. Menschenrechtsaktivisten zufolge griff die Türkei das kurdische Gebiet in der Nacht zum Dienstag (07.02) an. Laut dem Nahostexperten der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, handelt es sich bei dieser Region, welche nördlich der vom Erdbeben betroffenen Stadt Aleppo liegt, um ein Siedlungsgebiet, wo sich kurdische Geflüchtete aus der Stadt Afrin befinden. Unter dem Namen «Operation Olivenzweig» startete die Regierung Erdoğans am 20. Januar 2018 eine Militäroffensive auf Afrin, die Teil der türkischen Besetzung Nordsyriens seit 2016 war.
Inflation, gesellschaftlicher Druck, Polizeigewalt, gefangen genommene Oppositionelle, im Stich gelassene Erdbebenopfer: Die Liste der Unrechtstaten des rechtspopulistischen Regime Erdoğans ist viel zu lang, um eine genauere Auseinandersetzung damit zu wagen.
Was wir jedoch, solange die letzte Hoffnung auf Veränderung in den nächsten Stunden noch besteht, tun können, ist, tatsächlich hoffnungsvoll zu bleiben und den Blick auf den Hoffnungsträger Kemal Kılıçdaroğlu zu richten. Denn Kılıçdaroğlu hat etwas nahezu Unmögliches erreicht. Der Oppositionsführer schaffte es, die düstere und aussichtslose Stimmung im Land mit seiner friedlichen und standhaften Art aufzuhellen. Das Herz-Zeichen wurde zum Markenzeichen des Politikers, der mit seinem Oppositionsbündnis „Sechser Tisch“ (CHP, Iyi Parti, Saadet Partisi, DEVA Partisi, Gelecek Partisi und Demokrat Parti) unterschiedliche Ideologien im gemeinsamen Kampf für eine demokratischere Türkei vereint hat. Mit seinem Versprechen auf Versöhnung mit allen gesellschaftlichen Gruppen und seinem öffentlichen Bekenntnis, der religiösen Minderheit der Aleviten anzugehören, hat er in den letzten Wochen die ansonst feindschaftliche politische Atmosphäre in der Türkei entschärft.
Wer ist Kemal Kılıçdaroğlu?

Kemal Kılıçdaroğlu wurde 1948 in der Provinz Tunceli (Kurdisch: Dersim) geboren und studierte 1971 in Ankara Volkswirtschaftslehre. Nach einem einjährigen Aufenthalt als Buchhaltungsexperte in Frankreich arbeitete er als Generaldirektor 1991 bei der Sozialversicherung Bağ-Kur und ein Jahr später bei der Generaldirektion der Sozialversicherungsanstalten sowie im Sozialministerium. Vom Wirtschaftsmagazin Ekomonik Trend wurde er 1994 zum «Bürokraten des Jahres» ernannt.
Seine politische Laufbahn begann er bei der Demokratische Linkspartei (DSP) von Bülent Ecevit im Jahr 1999, nachdem er sich aus der Bürokratie in den Ruhestand zog.
Bei den 22. Parlamentswahlen am 3. November 2002 wurde er als Istanbuler Abgeordneter der CHP (der republikanischen/ kemalistisch-sozialdemokratischen Volkspartei) in das Parlament gewählt. Acht Jahre später wurde er zum Vorsitzenden seiner Partei und fiel besonders aufgrund seines frühen Einsatzes gegen Korruption in der Innenpolitik der Türkei aus.
Seine wohl bekannteste politische Aktion war der Marsch für Gerechtigkeit, der Kılıçdaroğlu endgültig zum Symbol des friedlichen Widerstands in der Türkei machte. Im Juni 2017 wurde Enis Berberoğlu, ein Abgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) im türkischen Parlament, zu 25 Jahren Haft verurteilt, weil er angeblich Staatsgeheimnisse an eine Zeitung weitergegeben hatte. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu organisierte daraufhin einen friedlichen, 420 Kilometer langen Marsch von Ankara nach Istanbul, den so genannten „Gerechtigkeitsmarsch“, um gegen das Versagen der Demokratie und Gerechtigkeit zu protestieren. Der damals 69-Jähriger wurde zeitweise auf dem Weg nach Istanbul mit Steinen beworfen und erreichte trotz allen Hindernissen nach 23 Tagen die Zieldestination, woraufhin die Abschlusskundgebung in Istanbul-Maltepe mit bis zu zwei Millionen Menschen stattfand. Nebst seiner visuellen Ähnlichkeit erhielt Kılıçdaroğlu aufgrund dieses Marsches den Spitznamen «Ghandi Kemal», da die Aktion mit dem Salzmarsch von Mahatma Ghandi aus dem Jahr 1930 verglichen wurde.

Wie stehen Kılıçdaroğlus Chancen?
Regierungsnahe Kritiker*innen behaupten, dass Kılıçdaroğlus Chancen schlecht stehen, da er und seine Partei bisher keine Wahl gegen Erdogan gewinnen konnten. Doch dieses Mal ist es alles anders. Kılıçdaroğlu kandidiert zu ersten Mal selbst für die Präsidentschaft, obwohl die konservativen Flügel seiner Partei und des «Sechser Tischs» dies verhindern wollten. Ein Alevit, der friedliche Worte wählt und über Versöhnung spricht, scheint kein geeigneter Gegenspieler des autoritären Demagogen Erdoğan zu sein. Doch genau weil er nicht nur ein Gegenspieler, sondern in vielen Aspekten das Gegenteil des jetzigen Präsidenten der Türkei ist, baute sich in den letzten Monaten vor der Präsidentschaftswahl ein enormes Vertrauen in den Oppositionsführer auf. Der Politiker zeigt sich volksnah, dreht Videos von seiner bescheidenen Küche, und möchte auf keinen Fall in das jetzige Präsidentschaftspalast Erdogan nach seinem Sieg einziehen.
Auch die pro-kurdische Partei Yeşil Sol Parti und der politische Gefangene Selahattin Demirtaş unterstützen Kılıçdaroğlu. Verschiedenste Umfragen deuten auf einen knappen Sieg für Kılıçdaroğlu hin, falls es zu einer tatsächlich fairen Präsidentschaftswahl kommen sollte. Der Kandidat verspricht die Rückkehr zu einem „starken parlamentarischen System“, den Kampf gegen Korruption und Betrug, eine Annäherung an die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sowie die Stärkung des Justizsystems und der Demokratie.
Offen gesagt: Let’s go Dede!
Kemal Kılıçdaroğlu hat es geschafft, die junge Wählerschaft zu mobilisieren, die ihr Leben lang keinen anderen Präsidenten gekannt hat als Erdoğan. Rund fünf Millionen Erstwähler*innen (8% alles Wahlberechtigten) werden entscheidend für den Wahlausgang sein. Erreicht keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit (50% + 1), wird der Präsident zwei Wochen später in einer Stichwahl gewählt. Kılıçdaroğlu geht deswegen gezielt auf die Probleme der jungen Generation ein, wirbt mit fünf kostenlosen Gigabyte im Monat und möchte die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. Mit seinem Wahlspruch «Sana Söz» (de.: «Ich verspreche dir») wirbt der Kandidat für eine Türkei, in der die jungen Menschen nicht mehr um ihre Existenzsicherheit fürchten müssen. Seine junge Fangemeinschaft nennt ihn unteranderem auch «Dede» (de.: Grossvater) und verspricht, die erste Stimme ihres Lebens Kılıçdaroğlu zu geben.
Obwohl es Kritik bezüglich der Funktionsweise einer Regierung gibt, die aus sechs Parteien mit völlig unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen bestehen soll, gibt es jede Menge Gründe, um Kemal Kılıçdaroğlu bei den Präsidentschaftswahlen 2023 zu unterstützen. Und der wichtigste von all diesen Gründen ist, dass weder die Türkei noch diese Welt einen weiteren Diktator ertragen kann. Recep Tayyip Erdoğans wachsende Macht ist mit der Inhaftierung zahlreicher unschuldiger Menschen und der gewaltsamen Unterdrückung der demokratischen Kräfte der Türkei verbunden. Eine weitere Amtszeit würde das Ende jeder Hoffnung auf Freiheit bedeuten.
Deswegen ist dieser Hoffnungsschimmer der tatsächlich letzte Hoffnungsschimmer für die Türkei und all diejenigen, die persönlich, geschichtlich, familiär oder politisch mit der Türkei verbunden sind.
Offen gesagt: Let’s go Dede! Auf eine ein bisschen demokratischere Welt.
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